Wendy M. K. Shaw ist Professorin für Kunstgeschichte islamischer Kulturen an der Freien Universität Berlin. Sie hat ein besonderes Interesse an epistemischen Zusammenhängen von transkultureller Wahrnehmung. Ihre jüngste bedeutende Publikation erschien unter dem Titel What is "Islamic" Art: Between Religion and Perception (Cambridge University Press, 2019).



Das Gegenteil von Unschuld ist Ignoranz: Öffentliche Kunst und politische Auseinandersetzung

Ankünfte
 
Wenn du, der Welt überdrüssig und auf dem Weg zur Arbeit, beim Aussteigen aus der U Bahn mit einem Apfel konfrontiert wirst – ich meine einen Apfel auf einer Plakatwand, keinen, der achtlos den Bahnsteig hinabkullert oder vom Himmel fällt oder von einer freundlichen alten Dame in einem Fenster angeboten wird – dann könntest du versucht sein, gleich einen als Imbiss zu erwerben. Denn das ist es schließlich, wozu Werbeplakate da sind: Sie verkaufen uns etwas, von dem wir bis zu dem Moment gar nicht wussten, dass wir es brauchen. Doch Äpfel – bescheiden, wie sie sind, kompakt und rund – brauchen kaum beworben zu werden. Wir stecken sie ohne jedes Aufheben in unsere Tasche. Wir wissen, dass sie dort im Dunkeln geduldig ihre Saftigkeit erhalten. Warum also zeigt diese Plakatwand hier am Bahnsteig der U6 am Platz der Luftbrücke einen leuchtend roten, glänzend perfekten Apfel? Der Anblick lässt uns das Wasser im Mund zusammenlaufen, doch anstelle eines leckeren Obstes haben wir am Ende einen leeren Magen und einen vollen Kopf: öffentliche Kunst kann Gedanken nähren.
 
Wenn ich der Platz der Luftbrücke wäre, wäre ich wohl überaus neidisch auf meine Cousins Alexander und Potsdamer. Sicher, sie hatten zu leiden: an der Erniedrigung durch die Bombardierung und den Schmerz, zu Brachland zu werden. Doch sind sie aus der Asche auferstanden, zu Palästen des Konsums und des ideologischen Triumphes des Westens. Sie sind nicht in den Fängen der vergessenen Geschichte verblieben. Ich hingegen liege inmitten der Schmach des Kalten Krieges und trage ein Denkmal, das als „Hungerharke“ bezeichnet wird, als wäre es ein Denkmal für die knurrenden Mägen der Berlin-Blockade (1948-49) anstatt für die Luftbrücke, die darauf folgte. Egal, zumindest gibt es hier Stephanie Hannas Bodenposter Worauf basiert Frieden?, das Menschen beim Eintreten in meine U-Bahn-Station zum Nachdenken einlädt: darüber, wie ironisch es eigentlich ist, dass wir weiterhin dieselben Fragen über dieselben Wünsche stellen und doch noch immer und stetig in einen Kriegszustand verfallen. Zumindest habe ich hier diesen glänzenden Apfel, der vom Himmel fällt… in meiner Vorstellung ähnlich wie die Essenspakete in den Flugzeugen, die vor langer Zeit meine Stadt retteten.
 

Stephanie Hanna »Worauf basiert Frieden?« (Foto: Benjamin Renter)
Stephanie Hanna »Worauf basiert Frieden?« (Foto: Benjamin Renter)
 

Als der Welt überdrüssige Nahverkehrspendlerin, die ich bin, greife ich in das Plakat, um die Frucht zwischen die Finger zu kriegen, doch sie bleibt knapp außerhalb meiner Reichweite. Ich schaue nach dem Etikett, das per Laser in die Schale geschnitten wurde, wie viele Labels heutzutage. Omer Xawer. Merkwürdig, von dieser Marke habe ich noch nie gehört. Ich werde den anderen Apfel probieren, auf einem anderen Plakat, an der Plattform gegenüber. Auch der fällt aus dem Himmel – groß, saftig und verlockend süß: Karl Kolb. Merkwürdig, ist das nicht dieses… Unternehmen? Unter den großen Buchstaben sehe ich kleiner gedruckt: Scientific Technical Supplies. Mein Hunger säuert meinen Magen. Mein Apfel scheint nicht vom Baum gefallen zu sein. Der süße Geruch, der von ihm ausgeht, macht mich schwindelig. Mir ist übel. Ich kann nicht atmen. Ich stürze.
 
Mein Blick fällt auf ein Schild, das mich zum Flughafen Tempelhof weist. Ich bin nicht länger die weltmüde Pendlerin. Ich bin die Person, die von weit her in der Welt gekommen ist. Ich lebe im Transitbereich. Ich lebe in dem Flughafen, in dem keine Flüge ankommen und keine Flüge starten. Und ich habe kein Ticket zurück, denn mein Zuhause hat kein Denkmal jenseits meiner Erinnerung. Ich bin geflüchtet. Ich bin aus Halabja im irakischen Kurdistan gekommen. Ich bin Omer Xawer. Wir alle haben den süßen Geruch der Äpfel gerochen, bevor ich starb. Ich glaube, es war Karl Kolb, wer auch immer das ist, der uns getötet hat. Oder zumindest hat er das Gas an jene verkauft, die uns töteten. Er ist nicht mal eine richtige Person, sondern eine Marionette, die von jenen bewegt wird, die sich selbst für unschuldig halten. Bist du ein_e Puppenspieler_in? Ich bin der Geist in dem Apfel und meine Seele lebt in jedem geflüchteten Menschen. Meine Seele sucht dich heim.
 
Hast du den Apfel gegessen? Eva isst den Apfel. Schneewittchen isst den Apfel. Wenn deine Leute den Apfel essen, stirbst Du vielleicht nicht. Wenn deine Leute den Apfel essen, gewinnt dein Land vielleicht an Reichtum, was mein Land an Toten gewinnt. Es ist schwer zu sagen, von hier aus – hinter der Plakatwand. Ich finde es sehr schwierig, über Äpfel zu sprechen, du nicht auch?
 

Miro Kaygalak »Dual-Use« (Foto: Benjamin Renter)
Miro Kaygalak »Dual-Use« (Foto: Benjamin Renter)
 

Lasst uns stattdessen über Kunst sprechen…
 
Kunst gibt uns ein Rätsel auf, das wir nicht so richtig lösen können. Es ist weniger wie ein Detektivroman als wie ein Traum. Wir erhalten Zeichen, die sich weigern, sich zu Sätzen zusammenzufügen und trotzdem eine Art Wahrheit enthalten. Durch Kunst spiegelt das Opfer den Täter – und dazwischen stehe ich. Mein Kopf ist dazu eingeladen, zwischen Worten hin und her zu springen. Er ist eingeladen, seinen eigenen Weg zwischen Worten zu finden, mit einer oft vergessenen Kraft: der Neugierde. Er ist eingeladen, den Stumpfsinn des Gegebenen für die Freiheit der Erkundung zu verlassen. Das bedeutet, er ist eingeladen, aus dem Zug auszusteigen.
 
Der Zug bringt uns durch die Stadt, unterirdisch. Seine Schilder weisen flüchtig darauf hin, was sich überirdisch befindet. Doch in unserer Eile, an unser Ziel zu gelangen, unsere eigene tägliche Runde zu durchlaufen, sehen wir selten auf. Wir verpassen, wo wir sind; wir verpassen, was wir tun; wir verpassen, womit wir uns einverstanden zeigen. Der Zug ist der Raum der Gewohnheit und die Stadt ist das Leben, durch das wir unseren Lebensunterhalt verdienen und unsere Familien schützen. Dabei integrieren die meisten von uns sich in ihre Abläufe, bloß um zu überleben, oder – wenige Glückliche – auch, um erfolgreich zu sein. Das Leben im Zug ermutigt nicht zu unnötigen Pausen. Auf dem Bahnsteig zu verweilen, bringt eine_n in die Gefahr, den Apfel allzu genau anzuschauen.
 
Wie wir alle aus den europäischen Fehlübersetzungen der Bibel erfahren haben, steht der Apfel für Wissen. Wenn wir ihn genau anschauen, finden wir heraus, dass wir Omer Xawer getötet haben – und das mag eine Wahrheit sein, die wir nicht sehen wollen. Die Tatsache, dass wir ihn nicht persönlich kennen, dient nicht länger als Entschuldigung, wenn wir erkennen, dass wir selbst hinter dem Unternehmen stehen, dessen Handeln wir dulden: Karl Kolb. Wir stellen fest, dass wir selbst still und unwissentlich die Fäden in der Hand halten.
 
Kunst im öffentlichen Raum kann uns dazu einladen, aus dem Zug der Gewohnheit auszusteigen und den Steig der Besinnung zu betreten. Im Rahmen von Up in Arms (der diesjährigen Ausgabe von Kunst im Untergrund) ersetzen Kunstwerke auf Plakatwänden in ganz Berlin die üblichen einlullenden Einladungen zum Einkauf von Glückseligkeit und versetzen unwissentliche Betrachter_innen gewissermaßen in ein Rätsel. Die nichtsahnende Person, die in die U-Bahn-Station kommt, auf eine Bahn wartet und auf einem Bahnsteig Zeit verbringt, könnte versuchen, eins und eins zusammenzuzählen. Kunstwerke laden uns dazu ein, Einsichten zu erfahren, wenn wir sie am wenigsten erwarten – was üblicherweise auch die besten Einsichten sind.
 

Josefine Günschel »Versichern | Entsichern« (Foto: Benjamin Renter)
Josefine Günschel »Versichern | Entsichern« (Foto: Benjamin Renter)
 

Wie das oben beschriebene Werk Dual Use von Miro Kaygalak nutzt auch Josefine Günschel für ihre Arbeit Versichern | Entsichern das Medium Plakatwand oder eine Lentikular-Postkarte, um mit der deutschen Grammatik zu spielen: Sie spielt mit den Worten „versichern“ und „entsichern“, die sie über das Logo des Versicherungsunternehmens Allianz legt. Als gute Einwohner_innen Deutschlands versichern wir uns alle. Doch die Unternehmen, die uns versichern – zweifellos fungiert die Allianz hier als Beispiel und nicht als Ausnahme – ermöglichen es, die Granate zu entsichern, die für den gesamten Waffenhandel steht, auf dem ein Großteil des europäischen Reichtums basiert. Unsere Sicherheit beruht auf der Gefährdung anderer.
 
Die Arbeit von Beatrice Schuett Moumdjian, Forensic Excavations Inventory or the Total Deconstruction of an Armenian Family (dt. etwa: Bestandsaufnahme einer forensischen Ausgrabung oder die völlige Zerstörung einer Armenischen Familie) lädt die U-Bahn-Nutzenden dazu ein, Alltagsgegenstände von Familienleben zusammenzusetzen, die als Collage ausgebreitet sind wie in einer Verbrechensermittlung: Andenken, alte Fotos, abgelegtes Spielzeug. Es sind die Überbleibsel von Leben, die sich bis zu einem Verbrechen angesammelt haben – in diesem Fall der Völkermord an den Armenier_innen von 1915. Es stellt sich heraus, dass das Verbrechen nicht einfach nur dort in der Ferne verübt wurde, durch die Bosheit des Osmanischen Reichs, sondern auch gleich hier, durch die Unterstützung der preußischen Armee. Wir erinnern uns, wir waren Verbündete. Und die Verletzungen der Vergangenheit lassen sich nicht zu einem sauberen Bild zusammenfügen. Es bleibt für immer zerlegt – entstellt durch die freigesetzte Gewalt.
 

Beatrice Schuett Moumdjian »Forensic Excavations Inventory or The Total Deconstruction of an Armenian Family« (Foto: Benjamin Renter)
Beatrice Schuett Moumdjian »Forensic Excavations Inventory or The Total Deconstruction of an Armenian Family« (Foto: Benjamin Renter)
 

Kunst kann in vielen Formen der Galerie entkommen. Fitte Kadenz, eine Zusammenarbeit zwischen Alexis Dworsky und Cajus Heinzmann, verwandelt eine scheinbare Jogginggruppe beim Fitnesstraining in eine militärische Truppe, die ironischerweise die deutsche Rüstungsindustrie aufdeckt. Während die Performer_innen in Formation durch Berlin laufen, nutzen sie eine Militärkadenz, die durch den Film Full Metal Jacket (1987, Regie: Stanley Kubrick) bekannt und im gleichen Jahr zum Mittelpunkt der einen UK-Charthits wurde. Die Kadenz – Teil der üblichen kulturellen Aneignung von afroamerikanischer Kunst (hier: eines Lied-und-Antwort-Arbeitslieds) in allgemein „amerikanische“ Praktiken – verwandelt das Bild vom Militär in ein eingängiges, attraktives Mittel der kollektiven Teilhabe. Wie Fitness selbst – von Yoga bis CrossFit – lädt uns die Kadenz dazu ein, an Gewohnheiten teilzuhaben, die das Militär im alltäglichen Leben nachahmen und glorifizieren. Der Liedtext offenbart dann, wie tiefgreifend diese Bequemlichkeit in unserer Alltagsumgebung funktioniert, in der große Teile von Deutschlands Reichtum und Macht aus dem Rüstungshandel hervorgehen.
 

Alexis Dworsky & Cajus Heinzmann »Fitte Kadenz« (Foto: Benjamin Renter)
Alexis Dworsky & Cajus Heinzmann »Fitte Kadenz« (Foto: Benjamin Renter)
 

Abflüge
 
Die Einsichten, zu denen diese Arbeiten einladen, drehen sich nicht um Schuldhaftigkeit, sondern um Komplizenschaft. Wir sind nicht – so stellt sich heraus – unbeteiligt. Verbrechen werden nicht allein begangen, sondern mit Kompliz_innen. Als Einzelpersonen und als Nationen sind wir diese Kompliz_innen. Wir können uns nicht zurücklehnen und selbstgerecht andere für ihre Gewalt schelten. Das mag für Deutschland besonders schwierig zu schlucken sein, wo die gesamte Erzählung der Epoche nach dem Kalten Krieg als eine Geschichte der Tilgung dessen geschrieben wurde, was als größtes Verbrechen aller Zeiten gilt: des Holocaust. Die Kultur des Holocaust-Gedenkens hat über die Generationen verschiedene vorherrschende Phasen des Gedenkens durchlaufen: Jene, die die Zeit des Nationalsozialismus erlebt und erlitten haben, versuchten zu vergessen; deren Nachfolgegeneration machte ihrer Elterngeneration Vorwürfe; und die dritte Generation wollte nicht mehr für Ereignisse schuldig gesprochen werden, die lange vor ihrer Geburt stattgefunden hatten. Der Fall der Berliner Mauer vor dreißig Jahren hat die Luftbrücke als Denkmal des Kalten Krieges abgelöst und die Verheerung des Holocaust einen Schritt weiter in die historische Ferne gerückt. Man möchte glauben, dass ein Punkt kommen muss, an dem die Vergangenheit endet, das Leid gebüßt, der Schaden getilgt, die Gegenwart wieder ganz geworden ist. Schließlich ist das „Wir“, aus dem Deutschland besteht, „gut“.
 
Komplizenschaft verkompliziert das. Genozide finden oft im Stillen statt, aber kein Genozid findet allein statt. Aus der Verantwortung des Holocaust entlassen zu werden, entlässt euch nicht aus der Verantwortung, das Gas für das Massaker in Halabja zu liefern oder die osmanische Armee bei der Säuberung des Ostens von Armenier_innen zu unterstützen. Doch es öffnet sich eine Tür, wenn wir anerkennen, dass die Deutschen die Schuld des Holocaust weitgehend allein getragen haben, obwohl – wie so viele andere – auch dieser Genozid vor aller Augen stattfand, während andere Länder schwiegen und selbstgefällig im Gebräu ihres eigenen Hasses ausharrten. Unsere Schuld ist komplex, unsere Buße unvollständig und unser Schaden unendlich. Kein Land ist gut.
 
Politische Kunst läuft gemeinhin Gefahr, jene zu erreichen, die schon überzeugt sind. Wer bis in den Kunstraum Kreuzberg/Bethanien gekommen ist, um die großartige Ausstellung Up in Arms zu sehen, in der Kunstwerke aus Vergangenheit und Gegenwart versammelt sind, die sich gegen die nahtlose Komplizenschaft des Kapitalismus mit dem Krieg wenden, kennt schon das grundlegende Problem: dass die Vergnügen verkaufende Welt des Marketings eine Unzahl an staatlichen und privatwirtschaftlichen Anteilen versteckt, mit denen aus Krieg Geld gemacht wird. Zu sagen, dass das fortwährende Leid von Millionen von Menschen – die im Mittelmeer ertrinken, in der Wüste verbrennen, in Flüchtlingslagern dahinsiechen, vor aller Augen sowie in gesetzlosen Gebieten versklavt werden, in Massen aus ihren Häusern vertrieben werden und denen ein Übergang in neue Leben verweigert wird – die Grauen des Holocaust wiederholt, nachahmt und ausdehnt, ist keine Verharmlosung des Holocaust, sondern vielmehr die traurige Feststellung, dass er wiederholend fortwirkt anstatt beendet zu sein. Und wir sind Kompliz_innen.
 
Wie kann eine Ausstellung, die darauf aus ist, politisches Bewusstsein und politischen Widerstand zu fördern, ihre Botschaft aus der Galerie auf die Straße tragen? Ein Modell bietet die gemeinnützige Organisation LobbyControl, die (in Zusammenarbeit mit dem Projekt Up in Arms) Führungen organisiert, in denen die Komplizenschaft deutscher Unternehmen mit der Waffenproduktion herausgestellt wird. Wie der Galerieraum erweitert auch diese Initiative vor allem das Wissen jener, die das Problem schon kennen. Wie aber adressieren wir eine Öffentlichkeit, die es kümmern kann, die sich aber des Problems einfach nicht bewusst ist? Direkte Botschaften laufen Gefahr, die Leute zu verunsichern: Wenn sie sich für etwas beschuldigt fühlen, das sie nicht kontrollieren können, werden sie entgegenhalten, dass der Vorwurf nicht an sie zu richten sei. Die Taktik von Kunst im öffentlichen Raum spielt ein subtiles Spiel. Sie erkennt an, dass nicht alle sich nach der Frucht des Wissens ausstrecken werden. Doch Kunst weckt Neugierde. Sie lädt zur Nachforschung ein. In der U-Bahn wird es jene geben, die sich – wie Eva – vom Apfel locken lassen.
 
Für mehr Informationen über die Kunstwerke, die im Rahmen von Kunst im Untergrund entstanden, siehe: https://archiv.ngbk.de/projekte/kunst-im-untergrund-2019-arms/