Nils Bloch-Sørensen hat seinen Master in Kunstgeschichte an der Universität Kopenhagen abgeschlossen. Aktuell arbeitet er als Musik- und Kunstkritiker und schreibt u.a. für Passive/Aggressive und AFART. Daneben arbeitet er in der Galerie Ebensperger Rhomberg.


Jill Gibbon

Die britische Künstlerin Jill Gibbon setzt sich seit Jahren kritisch mit der Rüstungsindustrie auseinander, indem sie undercover als Waffenhändlerin zu Rüstungsmessen in London, Paris und Abu Dhabi reist, wo sie das Geschehen in Skizzenbüchern festhält. Die Arbeiten, die dabei entstehen, sind Teil der Ausstellung »Up in Arms«.



Der Körper verweigert den Gehorsam

ein Gespräch mit Jill Gibbon, geführt von Nils Bloch-Sørensen

In den Notizheften der britischen Künstlerin und Aktivistin Jill Gibbon wimmelt es von hastig gezeichneten Figuren. Es finden sich mit groben Strichen angedeutete Raketen und menschengroße Puppen, über denen imposante Körper aufragen. Alles scheint von Luxus durchdrungen zu sein: Frauen in Abendkleidern spielen Geige zwischen aufgetürmten Champagnergläsern, während Männer in Anzügen stolz Granaten zur Schau stellen und sich wissend zulächeln. Die Zeichnungen sind das Ergebnis von Gibbons zehnjähriger, investigativen Praxis, mit der sie die schwer zugängliche Welt der Waffenindustrie erforscht. Seit 2007 besucht sie Waffenmessen in ganz Europa sowie dem südlichen und östlichen Mittelmeerraum: die jährlich stattfindende Defence & Security Equipment International (DSEI) in London, die Eurosatory in Paris und die International Defence Exhibition & Conference (IDEX) in Abu Dhabi. Auf diesen Veranstaltungen fertigt sie schnelle Zeichnungen von Kund_innen, Handelsvertreter_innen und Produktpaletten an und sammelt die morbiden Werbegeschenke, die an den Ständen verteilt werden: Anti-Stress-Bälle in Form einer Bombe oder Kondompackungen mit der Aufschrift „der ultimative Schutz”. Ihre Arbeiten fanden mit dem Buch The Etiquette of the Arms Trade, das eine Auswahl der Zeichnungen aus ihren Notizheften und zwei Essays versammelt, sowie einer Ausstellung im Bradford Peace Museum 2018 ihren bisherigen Höhepunkt.
 

Jill Gibbon »Installation of sketchbooks drawn undercover at arms fairs - 2014-2019«, Ausstellungsansicht »Up in Arms«, Kunstraum Kreuzberg/Bethanien 2019 (Foto: Julian van Dieken)
Jill Gibbon »Installation of sketchbooks drawn undercover at arms fairs – 2014-2019«, Ausstellungsansicht »Up in Arms«, Kunstraum Kreuzberg/Bethanien 2019 (Foto: Julian van Dieken)
 

Politische Kunst hat in den letzten Jahren ein starkes Wiederaufleben erfahren. Dies zeigt sich sehr vielfältig sowohl in einer Ästhetisierung von Konflikten aus einer eher privilegierten Position heraus – wie sich am Fokus der documenta 14 auf die Krisen im Zusammenhang mit Flucht und Migration erkennen lässt – als auch in Projekten, in denen Aktivist_innen die Kunstindustrie dazu nutzen, Gelder aufzutreiben. Auch Gibbons Arbeit verortet sich in einer komplexen Grauzone zwischen investigativem Journalismus, poetischer Interpretation und aktivistischem Widerstand. Dennoch äußert sie sich ganz klar zu den Zusammenhängen zwischen diesen unterschiedlichen Feldern: „Für mich sind Kunst und Aktivismus eng mit einander verbunden. Ich sehe mich als Aktivistin, denn ich betrachte den Waffenhandel mehr als ein Problem und weniger als meinen rein thematischen Gegenstand. Mein Ziel ist es, diese Industrie zu verändern und aufzulösen, statt sie einfach nur zu dokumentieren.”
 
Es ist nicht leicht, sich Zutritt zu den Handelsmessen für Waffen zu verschaffen – vor allem nicht, wenn man gar keine Geschäfte machen will, sondern die Industrie kritisch unter die Lupe nehmen möchte. Im ersten Jahr gelang es Gibbon, auf die DSEI in London zu kommen, indem sie sich als eine „Kriegskünstlerin‟ ausgab, die ihre Fähigkeiten verbessern wolle, bewaffnete Fahrzeuge zu zeichnen. Dies funktionierte auch noch das zweite Jahr, bis ein Wachmann bemerkte, was sie tatsächlich zeichnete und sie rauswarf. Um ihre Arbeit fortzusetzen, musste sie vortäuschen, eine Sicherheitsberatungsfirma zu haben. Hierfür war es notwendig, sich wie eine Superheldin dem Anlass entsprechend in Schale zu werfen, um einen professionellen Eindruck zu machen: „Wenn ich auf Waffenmessen gehe, trage ich falsche Perlenketten, einen Polyesteranzug und ein Schlüsselband mit einem fingierten Unternehmenslogo. Damit parodiere ich den Scheinzirkus der Seriosität, mit dem sich die Industrie selbst aufwertet.” Gibbon ist sogar so weit gegangen, ihren Namen zu ändern, um ihre ursprüngliche Identität zu verschleiern.
 
Ein rechtschaffenes Geschäft
 
Bis in die 1990er Jahre unterlag in den meisten westlichen Ländern die Waffen- und Rüstungsproduktion weitestgehend staatlicher Kontrolle. Der Waffenhandel begann sich jedoch gegen Ende des Kalten Krieges teilweise bis vollständig zu privatisieren. Um sich an die Bewegungen des globalisierten Waffenmarktes anzupassen, wurden die großen Waffenmessen ins Leben gerufen, die ihre Produkte genau wie jede Messe für landwirtschaftliche Maschinen präsentieren. Gibbon betont, dass diese Privatisierung der entscheidende Moment gewesen ist, der die Zielstellung und die Funktion der Waffenindustrie grundlegend beeinflusst und verändert hat. „In den späten 1990er Jahren wurden Waffenunternehmen zu multinationalen Konzernen, wodurch sie sich über nationale Grenzen hinaus ausdehnten und Waffen an nahezu jeden lieferten, der bereit war zu zahlen. Dies hatte eine seltsame Auswirkung auf den Zweck und die Rechtfertigung der Industrie. Bomben, Raketen, Gewehre und Panzer wurden nicht mehr in erster Linie zur Verteidigung hergestellt (wobei das schon immer eine unglaubwürdige Behauptung war), sondern als Verkaufswaren und Mittel zur Gewinnerzielung.”
 
Gibbon beschreibt, wie dieser neu gewonnene Status eines rechtmäßigen Geschäftsmodells den Repräsentanten autoritärer Regime, nationalen Kriegsparteien und Staaten, die Menschenrechte verletzen, erlaubt, Geschäfte zu machen, ohne von einer regulären Gesellschaft dafür verurteilt zu werden – und zwar so weit, dass durch die fehlende Transparenz des globalen Kapitalismus gesetzliche Richtlinien sogar noch aufgeweicht werden. Man vermutet, dass britische Rüstungsfirmen Waffen an zwei Drittel jener Länder geliefert haben, die das britische Außenministerium als „Human Rights Priority Countries” gelistet hat.
 
Die Umrisse eines Trugbildes
 
Auf den ersten Blick erscheint Gibbons Buch harmlos. Zwischen den rosa Buchdeckeln ergießen sich die hastig gezeichneten Figuren über die Seiten und geben nie das Finstere, das dahintersteht, preis. Dies ist eine sehr passende Verpackung für ein Projekt, in dessen Zentrum sowohl die Untersuchung der gesellschaftlichen und performativen Verhandlungen steht, die es dem Waffenhandel erlauben, als moralisch tragbar zu erscheinen, als auch die Untersuchung, auf welche Weise es der Industrie gelingt, eine respektable Fassade zu errichten, um Geschäfte zu rechtfertigen, die gesellschaftliche, religiöse und moralische Grundsätze sowie gesetzliche Richtlinien verletzen.
Gibbon beschreibt, wie wichtig es für die Industrie ist, sich sowohl nach Innen gegenüber den Handelsvertreter_innen und Kund_innen zu rechtfertigen, als auch in den Augen der restlichen Welt: die großen Gesten, der Fachjargon und die Kleidung des globalen Kapitalismus helfen dabei, jeden Anflug von Schuldgefühl und Strafbarkeit einzudämmen, während die extravaganten Locations und die neoliberale Wichtigtuerei ein Bild von Anständigkeit konsolidieren. Es handelt sich um eine sorgsam entwickelte Choreografie, die die Illusion erzeugen möchte, es handle sich um ein Geschäftsmodell wie jedes andere auch. Als wären die ausgestellten Panzer Rasenmäher oder die Handgranaten Putzzeug: „Die Waffenhändler_innen scheinen sich mithilfe von Kameradschaft und einem Gehorsam gegenüber ihrer Firma vor Schuldgefühlen zu schützen. Die Schlüsselbänder stehen dafür, dass die Vertreter_innen im Namen des Unternehmens und nicht als sie selbst sprechen. Das ständige Alkoholtrinken verhindert, dass sie zu viel darüber nachdenken, was sie da eigentlich machen. […] Und die Gepflogenheiten des Dresscodes, das Verkaufsgebaren und die Höflichkeiten üben eine subtile und langsame Form von Gewalt aus, denn sie stellen eine Distanz zwischen den Waffenhändler_innen und den Resultaten ihrer Verkäufe her.‟
 
Dieses Spektakel findet vielfältige Ausdrucksformen: der nüchterne und objektiv wissenschaftliche Jargon, in dem die Produkte angepriesen werden; der Prunk und die Kennzeichnen höherer Gesellschaft, die den Veranstaltungen eigen ist, wie kostenloser Champagner, Streichquartette und Models in schicken Kleidern. In der Sexualisierung der Produkte deckt Gibbon sogar komplexe Geschlechterperformances im Waffenhandel auf. „Auf den Waffenmessen werden die Kampfmittel als Symbole patriarchaler Macht präsentiert, wenn sie aufrecht wie Statuen in dramatischem Licht leuchten, während junge Mädchen in kurzen Röcken um sie herum drapiert werden. Die Waffenindustrie ist von Männern dominiert und Frauen sind zumeist die Angestellten, die Drinks, Süßigkeiten und Gefälligkeiten anbieten.”
 
Die Performance zeichnen, nicht die Beteiligten
 
Wenn man sich dies bewusst macht, ist zwar deutlich zu erkennen, dass dieses Spektakel das schlechte Gewissen der Beteiligten maskiert, allerdings taucht da noch etwas Subtileres und Zweifelhafteres hinter der Fassade auf. „Durch die Risse sickert noch etwas anderes als Schuld, das weniger kohärent ist. Der Körper verweigert den Gehorsam und begehrt gegen das vorgegebene Protokoll der Unternehmen auf, indem er sein Unbehagen zeigt: Schwitzen, ein in die Hände gestützter Kopf, ein Stöhnen, eine Grimasse.”
 

Jill Gibbon »Installation of sketchbooks drawn undercover at arms fairs - 2014-2019«, Ausstellungsansicht »Up in Arms«, Kunstraum Kreuzberg/Bethanien 2019 (Foto: Julian van Dieken)
Jill Gibbon »Installation of sketchbooks drawn undercover at arms fairs – 2014-2019«, Ausstellungsansicht »Up in Arms«, Kunstraum Kreuzberg/Bethanien 2019 (Foto: Julian van Dieken)
 

Genau diese Art von Fragilität versucht Gibbon in ihren Zeichnungen einzufangen: die Risse in der Fassade. Ihre Bilder dokumentieren die von menschlicher Emotion hervorgerufenen und doch ungewollten Gesten. Auf diese Weise stemmen die Zeichnungen wie ein Brecheisen die Zierleiste oder das Furnier auf, das den Schein von Anstand wahren soll. In den schnellen Skizzen und mit aufgeschnappten Gesprächsfetzen werden die Umrisse eines Trugbildes kenntlich.
 
In Anlehnung an das Konzept der Performativität, das von der US-amerikanischen Philosophin und Soziologin Judith Butler bekannt gemacht wurde, schlägt Gibbon vor, die Höflichkeit des Waffenhandels zu parodieren. Diese Höflichkeit soll den Waffenhandel wie eine Rüstung schützen, doch sie kann destabilisiert werden und zwar nicht nur, indem man die harte Realität aufzeigt, die sie verdeckt, sondern auch, indem man sie parodiert. Ausgehend von der Analyse einer Dragperformance behauptet Butler, dass es mit den Mitteln der Karikatur gelingt, etwas, das durch ständige Wiederholung naturalisiert wurde, als etwas gesellschaftlich Konstruiertes zu enthüllen.1 „Die Waffenindustrie ist heuchlerisch. Sie gibt vor, ein ganz normaler Wirtschaftszweig zu sein, aber sie schöpft ihre Gewinne aus Krieg, Unterdrückung und Vertreibung. Hier kommt Kunst, vor allem die Tradition des Dada, ins Spiel. Parodie, Performance und Karikatur bilden wichtige Methoden, um gesellschaftliche Ansprüche zu untergraben.” Dies sind Wege, um die Nähte des Schauspiels wieder aufzutrennen.
 
In der Betrachtung von Gibbons Zeichnungen wird deutlich, dass es ihr nicht darum geht, eine einzelne Person vorzuführen, die am Waffenhandel beteiligt ist, wie das investigativer Journalismus tun würde. Ihre Arbeit scheint vielmehr der Versuch zu sein, die menschliche Seite dieser Individuen zu sehen, als würde sie auf der persönlichen Verpflichtung nicht einer bestimmten Person, sondern der Menschen als solcher beharren. „Mein Ziel ist es, die moralischen Wertvorstellungen des Waffenhandels in Frage zu stellen, aber ich denke nicht, dass dies damit getan ist, einzelne Personen anzugreifen. Die Waffenindustrie ist riesig, sie ist mit einem multinationalem Kapitalismus verwoben und umfasst viel mehr als einige wenige Individuen. Indem ich die Aufmerksamkeit auf das Vorspiegeln von Respektabilität lenke, geht es mir um eine Kritik der Weise, in der Waffenverkäufe als etwas Normales begriffen werden. […] In meinen Zeichnungen versuche ich zu zeigen, wie vermittels Make-up oder Gesten des Verkaufens und Willkommenheißens eine höfliche Fassade hergestellt wird. Ich versuche auch, diese Verkleidung herunterzureißen, indem ich mich nach abscheulichen Zusammenstellungen umsehe wie: Waffen und Wein; Geschosse, die wie normale Produkte präsentiert werden; Menschen, die sich von Gewehren angezogen fühlen. Hier geht es mir darum, die Vorstellung, dies sei ein moralisch vertretbarer Arbeitsplatz, zu hinterfragen.”
 
Singularität als Ziel
 
Laut Gibbon findet in der Waffenindustrie eine allgemeine Entkörperlichung statt. Mit dem technologischen Fortschritt wird versucht, zwischen dem Täter und dem Akt der Gewalt eine Distanz herzustellen – etwas, das auch auf einer moralischen Ebene seinen Widerhall findet. Dass sich Gibbon für das Medium der Zeichnung entschieden hat, ist nicht nur eine Frage der Notwendigkeit, sondern bietet einen polemischen Kontrast zu den vorherrschenden Darstellungsformen auf diesen Veranstaltungen. „Die meisten der modernen Waffen beruhen auf gestützten Sichttechnologien mit Zielfernrohren, Sichtgeräten, verdeckten und offenen Kameras. Das bedeutet, das die Opfer oft aus der Ferne ins Visier genommen werden, was die Soldat_innen von den Auswirkungen ihrer Handlungen auf die lebendigen Körper distanziert. Drohnen sind das beste Beispiel dieses entkörperten, bewaffneten Sehens. Zeichnungen und Performance bringen den menschlichen Körper wieder auf die Bildfläche.”
 
Eine Zeichnung hinterlässt immer Spuren des Körpers, der sie produziert, und agiert als ein Beharren auf der Menschlichkeit durch die all jene miteinander verbunden sind, die auf den Messen die Produkte verkaufen, die sie kaufen und jene, die ihnen zum Opfer fallen. Für Gibbon ist eine Zeichnung zwangsläufig mangelhaft. “John Berger sagt ‘Jede Zeichnung missglückt auf ihre je eigene unvorhersehbare und besondere Weise.’ Zu zeichnen erlaubt eine sehr menschliche Herangehensweise an einen Blick auf unmenschliche Seh- und Tötungstechnologien. […] Zeichnungen machen unsere Subjektivität offenkundig. Wenn wir zeichnen, ist es ganz klar, dass wir die Welt aus einer bestimmten Sicht dokumentieren. Zeichnen übermittelt unsere Reaktionen auf ein Ereignis – Angst in einer zitternden Linie, Ärger in tief eingeschriebenen Strichen.”

1 Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, übers. von Kathrina Menke, Frankfurt a. M. 1991.